„Darüber spricht man nicht“ – Der Vorteil Sexualität und Beziehungsprobleme in der Beratung nicht länger zu verschweigen.
- Yuliya Grechukhina
- 22. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt Themen, die man still mit sich herumschleppt, manche über Wochen oder Monate, andere über Jahre oder ein Leben lang. Diese Themen setzen sich im Körper fest: als Druck im Brustkorb, als Kloß im Hals, als ständiges Grübeln, als chronisches Räuspern. Sexualität ist für viele Menschen genau so ein Tabu-Thema – besonders dann, wenn sie schwierig, schmerzhaft oder unerfüllt erlebt wird...
Ob keine Lust mehr da ist, der Sex belastend geworden ist, ein Seitensprung passiert ist oder einfach nur Schweigen in der Beziehung herrscht: Viele trauen sich nicht, offen darüber zu sprechen. So paradvox erscheint es mir in unserer Gesellschaft, in der auf jeder Werbetafel und in jeder Zeitschriften Übersexualisierung stattfindet aber kein echter Austausch über all die wahre, unbeschönigte, lebensnahe sexuelle Praxis - mit sich selbst und mit anderen Personen.
Nicht mit Freundinnen, nicht mit der eigenen Partnerperon – und erst recht nicht in der Beratung mit einer fremden Person. Und doch: Genau das kann der Schlüssel sein. Denn was wir verschweigen, wird nicht kleiner. Es wird schwerer und belastender, größer und mächtiger in unserem Tagtäglichen.
Warum Sexualität in Beratung und Therapie oft ausgespart wird
Sexualität ist ein zutiefst persönlicher Bereich. Er ist mit Intimität, Identität, anerzogener Scham, Lust und Unsicherheiten über den eigenen Körper oder Vorlieben verknüpft. Wir wachsen in einer Kultur auf, in der sexuelle Themen oft tabuisiert oder moralisiert werden – besonders dann, wenn sie nicht in ein „normgerechtes“ Schema passen. Alle meinen zu wissen, was dieses "normal" ist. Aber wer bestimmt, was normal ist?
Hinzu kommt: Viele Menschen wissen gar nicht, dass man über Sexualität auch in einer systemischen Beratung oder Therapie sprechen darf - und dass es kein Thema ist, das ihr Gegenüber nicht halten kann. Sie glauben, man müsste „erstmal die Beziehung retten“, „erstmal die Kommunikation verbessern“ – und alles Körperliche kommt später - oder am liebsten nie.
Oder es bestehen Unsicherheiten wie:„Ist das, was ich mir wünsche, eigentlich erlaubt?“„Was, wenn meine Fantasien abgelehnt oder pathologisiert werden?“„Ist es überhaupt legitim, unzufrieden zu sein, obwohl es ‚eigentlich‘ okay läuft im Bett und meine Partnerperson sich bemüht?“
Diese Fragen bleiben häufig ungestellt – und genau das isoliert. Es verhindert Entwicklung, es kappt Verbindung, es lässt die Gespräche mit der liebsten Person zu einem Spaziergang auf einem Minenfeld werden.
Was passiert, wenn wir anfangen zu sprechen?
Wenn du dich entscheidest, diese Themen auszusprechen, beginnt ein Prozess, der viel mehr verändert als nur dein Sexualleben. In der Beratung entsteht ein sicherer und neuer Raum, in dem du:
deine Scham benennen und anschauen darfst, ohne verurteilt zu werden,
deine Bedürfnisse und Grenzen erkunden kannst, ohne bewertet zu werden
herausfindest, wo du gelernt hast, dich zurückzunehmen, zu funktionieren, zu schweigen oder Genuss und Lust vorzutäuschen.
Und oft wird dabei klar: Das eigentliche Problem ist nicht „die Sexualität“, sondern das, was sie wirklich repräsentiert. Sexualität ist ein Spiegel. Für emotionale Nähe, für Konflikte, für Rollenbilder, für den Umgang mit Verletzlichkeit und Selbstakzeptanz oder Selbstablehnung.
In der Beratung können wir diese Spiegel gemeinsam betrachten – und beginnen, sie neu zu gestalten. Das lässt einen so selbstwirksam fühlen! Und genau das - Selbstwirksamkeit - ist einer der Hauptzieler einer Beratung.
Welche Veränderungen sind möglich, wenn Sexualität nicht mehr tabu ist?
Du wirst ehrlicher mit dir selbst - im ersten Schritt. Wenn du deine eigenen Wünsche, Ängste und Grenzen aussprichst, beginnst du, dich selbst ernst zu nehmen. Das verändert nicht nur deine Sexualität – sondern dein gesamtes Selbstbild, eventuell dein Auftreten und dein Körpergefühl. Du merkst: Ich darf mich zeigen. Ich darf fühlen, was ich fühle. Ich darf anders sein, ohne falsch zu sein. Wozu all das weiter hinter Scham verstecken?
Du lernst, Nähe neu zu gestalten. Viele Beziehungskrisen haben ihren Ursprung in unausgesprochener sexueller Unzufriedenheit. Es entsteht nur der Eindruck, dass man sich um den Haushalt, unterschiedliche Urlaubsvorstellungen oder andere Nebenschauplätze streitet. Wenn das Thema auf den Tisch kommt, kann etwas Großes in Bewegung geraten – auch wenn es anfangs unbequem ist. Du wirst neue Arten von Verbindung entdecken, eine neue Sprache darüber, neue Formen von Intimität, auch jenseits des klassischen sexuellen Skripts.
Du stärkst dein Selbstwertgefühl. Sexuelle Probleme werden oft mit „Fehlfunktionen“ verwechselt. Dabei geht es selten darum, dass du falsch bist – sondern darum, dass du dich selbst nicht mehr spürst. Wenn du dich wieder mit deinem Körper verbindest, mit deiner Lust, mit deinem Recht auf körperliche Freude und klar abgesteckte Grenzen, entsteht Selbstachtung. Und die strahlt aus – in deine Arbeit, in Freundschaften, in deinen Alltag.
Du wirst kommunikativer – nicht nur im Bett. Wer lernt, schwierige Themen wie Lust, Schmerz, Enttäuschung oder Fantasien auszudrücken, entwickelt kommunikative Stärke. Du musst nicht mehr schweigen, dich anpassen oder dich verbiegen. Mit der Zeit wirst du klarer - erst für dich und im nächsten Schritt für andere. Und diese Klarheit verändert auch andere Lebensbereiche: Beziehungen, Rollenverständnisse, sogar den beruflichen Umgang mit Nähe und Distanz.
Sexualberatung ist kein Luxusproblem. Sie ist Persönlichkeitsentwicklung.
Viele Menschen denken: „Ich kann doch nicht wegen sowas in die Beratung gehen…“ Wer sagt das? Doch, kannst du. Und du solltest – gerade dann, wenn du merkst, dass du dich seit Monaten oder Jahren im Kreis drehst und weiter im Schweigen gefangen fühlst.
Denn Sexualität ist keine Nebensache. Sie ist ein zentrales Ausdrucksfeld deiner Lebendigkeit. Und wenn dort etwas klemmt, betrifft es fast immer auch andere Bereiche – seelisch, emotional, körperlich.
Sie ist kein Notfallkasten für kaputte Beziehungen – sondern ein Erfahrungsraum für mutige Veränderung, ein Entwicklungsraum. Für dich. Für euch. Für das, was möglich ist – jenseits von Funktionieren, Erwartungen und alten Mustern.
Du musst nicht länger schweigen.
Wenn du dich angesprochen fühlst, wenn du merkst, dass dieses Thema in dir arbeitet: Melde dich gerne bei mir. Ob alleine, als Paar oder in einer anderen Beziehungskonstellation. Du bist willkommen – mit deinen Fragen, deinen Ängsten, deiner Neugier. Sexualität darf Thema sein und Veränderung ist möglich.
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