Trauma trifft Intimität: Warum Nähe manchmal so schwer fällt – und wie wir sie zurückerobern können
- Yuliya Grechukhina
- 9. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Nähe – für viele klingt dieses Wort nach Geborgenheit, Wärme, Vertrauen - dem Gefühl angekommen zu sein. Doch für Menschen, die Trauma in ihrer Kindheit oder im späteren Lebensverlauf erlebt haben, kann Nähe auch das Gegenteil auslösen: plötzliche Enge, Überforderung, Angst oder sogar Rückzug. Vielleicht ist dir das Gefühl auch bekannt: Du sehnst dich nach Verbindung, aber sobald es wirklich intim wird – sei es im Gespräch oder beim Blickkontakt, beim Kuscheln oder in der Sexualität – zieht sich etwas in dir zusammen und am liebsten würdest du das Weite suchen.
Warum ist das so? Und was können Paare tun, um trotz Trauma behutsam wieder Nähe zu gestalten und miteinander zu lernen?
Wie Traume unsere Beziehungsfähigkeit prägt
Ein Trauma – egal ob in der Kindheit oder später erlebt – hinterlässt Spuren im Nervensystem. Es formt unser Gehirn und hinterhässt nachhaltige neuronale Veränderungen darin. Unser Körper lernt zu fühlen: „Ich bin hier nicht sicher.“ Daraus ergeben sich folgende Verhaltensmuster (die auch auch schon im anderen Beitrag erwähnt habe), die nicht beziehungsförderlich sind und unsere Fähigkeit uns dem Partner authentisch zu zeigen um zu vertrauen, verhindern.
Fight (Kampf): Wir reagieren mit Gereiztheit oder Streit bei Triggern, die sich in der Partnerschaft zeigen.
Flight (Flucht): Wir ziehen uns zurück, brechen Gespräche ab oder verlassen die Situation, statt sie als Team zu lösen und aus der Welt zu schaffen.
Freeze (Erstarrung): Wir fühlen uns blockiert, können nicht mehr sprechen oder fühlen - der Kontakt wird unterbrochen, gar unmöglich gemacht.
Fawn (Anpassung): Wir versuchen, es allen recht zu machen, um Konflikt zu vermeiden und pleasen Menschen auf unsere Kosten.
Diese Reaktionen sind keine Charakterfehler, sondern Überlebensstrategien. Sie sind einst entstanden, um uns zu schützen – doch in der Partnerschaft können sie Nähe erschweren. Die Arbeit mit ihnen in einem therapeutischen Setting lohnt sich und kann helfen sie zu verlernen.
Nähe als Tanz verstehen
Stell dir Intimität in einer Beziehung oder in Freundschaften wie einen Tanz vor: Zwei Menschen bewegen sich aufeinander zu.
Wenn ein Nervensystem Sicherheit spürt, fließt die Bewegung harmonisch. Der Kopf denkt nicht viel nach - man tanzt unberschwert miteinander und genießt den Tanz.
Wenn ein Nervensystem Gefahr wittert, gerät dieser Tanz ins Stocken – einer zieht sich zurück, die andere Person tritt vielleicht nach vorne oder der anderen Person auf die Füße.
Trauma macht diesen Tanz komplizierter und unsicher. Aber: Jeder Tanz kann neu gelernt werden – Schritt für Schritt, mit Geduld, Achtsamkeit, Kommunikation und Vertrauen, dass unser Gegenüber mit uns tanzen will und bereit ist mit uns liebenvoll daran zuj üben.
Um zu gucken, wie deine Beziehungs-Tanzfähigkeiten aktuell sind, beantworte dir in Ruhe folgende Reflexionsfragen:
Wann fühle ich mich meinem Partner / meiner Partnerin wirklich nah?
Welche Situationen lösen in mir Stress, Rückzug oder Überforderung aus?
Wie reagiere ich auf die Stressreaktionen meines Gegenübers – mit Verständnis oder mit Druck?
Was brauche ich, um Nähe langsam zuzulassen?
Somatische Übungen für mehr Verbindung
Gerne möchte ich dir paar kleine Übungen mitgeben, die du mit deiner Partnerperson praktizieren kannst. Sie sind leicht in den Alltag integrierbar und können viel zu eurem Verbundenheitsgefühl beitragen und euere Nervensysteme regulieren:
1. Atem in Resonanz
Setzt euch Rücken an Rücken oder nebeneinander, ohne zu sprechen. Spürt, wie der Atem des anderen fließt. Spürt, wo euer Körper aufhört und der eurer Partnerperson anfängt. Versucht nicht den Atem zu synchronisieren – erlaubt einfach, dass Atemwellen sich allmählich annähern und die Atemmuster nebeneinander sein können. Die Wirkung setzt meist schon nach zehn gemeinsamen bewussten Atemzügen ein. Die Übung reguliert das Nervensystem und schafft stille Verbundenheit zwischen euch.
2. Hand-auf-Herz-Übung
Jede*r legt eine Hand auf das eigene Herz, die andere auf die Hand des Partners/der Partnerin. Spürt die Wärme, den Rhythmus und die Präsenz während dieser Übung. Besonders in unserem schnelllebigen Alltag kann diese Übung fordernd sein, doch euer Nervensystem wird es euch schnell danken und ihre Wirkung entfalten in Form von Sicherheit und Verbindung über den bewussten Körperkontakt.
3. Sichere Distanz bewusst gestalten
Setzt euch gegenüber und handelt gemeinsam einen Abstand aus, der sich gerade für euch beide gut anfühlt – nah oder weiter weg. Sprecht aus: „So fühle ich mich bei dir sicher.“ Beobachtet euren Körper dabei und seine Reaktionen, wie den Herzschlag oder die Körperwärme. So lernt euer System, dass Nähe verhandelbar ist und dass Grenzen von eurer Partnerperson respektiert werden. Ihr lernt so Bedürfnisse zu kommunizieren und übt einen inneren Dialog: "Was brauche ich gerade, um mich sicher zu fühlen?"
Nähe darf wachsen
Wenn Trauma auf Intimität trifft, ist das kein Zeichen von Unfähigkeit oder „Defekt“, der "nicht repariert" werden kann. Es ist ein Hinweis, dass das Nervensystem in diesem Moment Schutz und behutsame Zuwendung braucht. Nähe ist dann nicht verloren – sie braucht nur achtsame Schritte, klare Kommunikation und körperliche Co-Regulation.
Ganzheitlichkeit bedeutet hier: nicht nur über Probleme reden, sondern vielleicht darüber nicht zu reden. Im ersten Schritt geht es darum den Körper, das Nervensystem und die Beziehungsebene einzubeziehen und gemeinsame Beziehungsressourcen zu aktivieren. So kann Nähe langsam wieder Wurzeln schlagen – sanft, stabil und im eigenen Tempo. Wenn ihr also in eurer Beziehung merkt, dass Nähe oft schwerfällt, betrachtet das nicht als Versagen, sondern als Einladung.
Einladung, euren Tanz neu zu erlernen – mit Geduld, Verständnis und vielleicht Unterstützung von außen.
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