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Scham über sexuelle Vorlieben: Wie wir lernen sie anzunehmen und zu kommunizieren

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Das Feld der Sexualität ist bunt, vielfältig und bei jeder einzelnen Person ganz individuelle Komposition. Jede*r von uns hat Wünsche, Fantasien oder Vorlieben, die uns erregen. Gleichzeitig ist mit diesem Thema nicht selten ein gegensätzliches Gefühl verknüpft: die omnipräsente Scham. Das Gefühl nicht richtig zu begehren. Viele Menschen kennen die innere Stimme, die flüstert: „So etwas darf man doch nicht mögen.“ oder „Wenn ich das erzähle, werde ich abgelehnt.“ Ich kann diese Sorge sehr gut verstehen, denn was gibt es Schlimmeres als von der Beziehungsperson in einem verletzlichen intimen Setting möglicherweise zurückgewiesen zu werden?


Scham entsteht, wenn wir fürchten, nicht dazuzugehören oder nicht „normal“ zu sein, damit, was wir brauchen und gut finden. Gerade im Bereich Sexualität ist die Scham stark verbreitet, weil Tabus und Schweigen über Generationen weitergegeben wurden und die wenigsten von uns einen integrierten und freien Umgang mit dem eigenen Körper und seine Lust beigebracht bekommen haben. Wir wachsen mit Vorstellungen davon auf, was „richtig“ oder „falsch“ sei – und all das, was davon abweicht, fühlt sich schnell heimlich oder problematisch an. Dabei ist die Wahrheit ganz einfach: Es gibt keine „richtige“ Lust. Deine Vorlieben sind ein legitimer Teil deiner Sexualität – so selbstverständlich wie deine Augenfarbe oder dein Musikgeschmack, so in Ordnung ist auch dein Lustempfinden.


Dennoch bewahren viele Menschen ihre besonderen Wünsche in einer Art innerer geheimer Schublade auf. Niemand soll hineinschauen dürfen, auch die Beziehungsperson, mit der man Sexualität teilt. Doch jedes Mal, wenn diese Schublade einen Spalt aufgeht z.B. in eigenen Fantasien, in Nachtträumen oder beim Schauen von Pornos, schleicht die Scham heraus. Der Weg zu mehr Freiheit besteht nicht darin, die Schublade für immer zu verschließen, sondern den Inhalt mit neugierigem und freundlichem Blick zu betrachten.


Eigene Vorlieben annehmen – der erste Schritt zur Freiheit

Der erste Schritt, den ich in der Sexualberatung mit meinen Klient*innen erarbeite, ist die Selbstannahme. Statt deine Lust als Problem zu sehen, darfst du sie als Ressource verstehen. Frag dich: „Was würde passieren, wenn ich meine Vorlieben nicht länger bekämpfe, sondern als Teil meiner Lebendigkeit anerkenne?“ Schließlich kommuniziert mir mein Körper, wenn ich an diese Vorliebe denke, Freude und Erregung. Das sind doch wunderbare körperliche Wahrnehmungen.


Auch der Körper möchte in diesen Prozess einbezogen werden, denn Scham zeigt sich meist körperlich: als Druck im Bauch, Hitze im Gesicht oder Kloß im Hals. Bewusste Atemübungen oder kleine Bewegungen können helfen, diese Energie zu regulieren und der Scham zu begegnen und zwar nicht mit Starre, sondern offen, neugierig und beweglich. Schon drei tiefe Atemzüge mit bewusstem Spüren des Bodens unter den Füßen können Sicherheit geben und das Feedback an deinen Körper senden: "Du bist in Odnung gerade mit deiner Lust."


Wie Scham in Sprache verwandeln?

Vorlieben zu teilen bedeutet, sich verletzlich zu zeigen – das ist Fakt. Und genau hier braucht es achtsame Kommunikation und einen sicheren Raum, wo sie geübt werden kann. Vieler meiner Klient*innen über das erst in der Sexualberatung, bevor sie das in ihre Beziehung reinbringen. Diese drei Tipps können dir dabei helfen:


  1. Sprich in Ich-Botschaften: Statt „Du gibst mir das Gefühl, nicht normal zu sein“ lieber „Ich merke, dass ich unsicher bin, wenn ich meine Wünsche mit dir teile.“

  2. Wähle den richtigen Rahmen: Nicht zwischen Tür und Angel, sondern in einem ruhigen Moment, vielleicht bei einem Spaziergang oder nach einem gemeinsamen Ritual.

  3. Beginne behutsam: Du musst nicht sofort alles preisgeben. Ein Satz wie „Es gibt Fantasien, die ich spannend finde und die ich dir gerne nach und nach erzählen möchte“ öffnet die Tür sanft.

Kommunikation über Sexualität ist keine einmalige Beichte, sondern ein wachsender Dialog mit wertfreiem Zuhören und Nachfragen. Sie darf sich entwickeln – im deinem eigenen Tempo.


Partnerschaft als sicherer Experementierraum

In einer liebevollen Partnerschaft darf ein Raum entstehen, in dem wir uns mit allen Facetten zeigen können. Dazu gehört, dass wir den Mut finden, nach den eigenen Bedürfnissen zu fragen und gleichzeitig neugierig zu bleiben auf die Wünsche des anderen. Sexualberatung kann hier unterstützen, wenn es schwerfällt, diese Gespräche alleine zu führen oder wenn dir noch die richtigen Worte fehlen, um selbst den Auftakt zu machen.

Kurze und einfache Reflexionsfragen können euch als Paar dabei helfen: Wann fühle ich mich wohl damit, meine Lust mit dir zu teilen? Welche Ängste halten mich zurück? Und was könnte mir helfen, offener und mutiger zu sein?


Deine Lust ist ein Teil von dir annehmen

Die Funktione von Scham ist es uns klein halten, doch du bist größer als deine Scham. Deine Vorlieben sind kein Makel, sondern Ausdruck deiner sexuellen Lebendigkeit. Ganzheitliche Sexualität bedeutet, auch diese Anteile von dir einzuladen – ohne sie zu verstecken oder abzuwerten.

Es geht nicht darum, eine Vorliebe loszuwerden, sondern sie zu ownen und zu integrieren – als Teil deiner ganz individuellen Sexualität, deiner Beziehung und deines ganzen Menschseins. Indem du lernst, Scham in Sprache zu verwandeln und in Verbindung zu treten, entsteht eine neue Freiheit – für dich selbst und für die Intimität in deiner Partnerschaft.

 
 
 

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