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Vom Überlebensmodus zur Verbindung: Mit reguliertem Nervensystem besser streiten

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Streit gehört zu jeder Beziehung. Er ist wie ein Gewitter: laut, unberechenbar – aber manchmal reinigendund beruhigt sich genauso schnell, wie es sich aufgebaut hat. Doch nicht jeder Streit fühlt sich klärend an. Manche Auseinandersetzungen hinterlassen Leere, Distanz oder tiefe Verletzungen, die Paare noch lange durch ihre Beziehungsgeschichte tragen. Warum ist das so? Die Antwort liegt meistens nicht im Thema des Streits selbst, sondern in unserem Nervensystem – und darin, wie es auf Trigger reagiert.


Was passiert im Körper genau bei Streit? Fight - der Kampfmodus Fawn - der Anpassungsmodus


Wird ein Mensch in einer Auseinandersetzung getriggert, erinnert das Nervensystem sich an frühere belastende und unverarbeitete Erfahrungen. Meistens sind es ungelöste frühkindliche Konflikte – manchmal bewusste, oft unbewusste.

  • Ein scharfer Ton kann alte Erinnerungen an Ablehnung wecken, die wir von Mutter oder Vater erfahren haben.

  • Rückzug des Partners kann wie ein Wiedererleben von Verlust wirken, als unsere Eltern nicht genug für uns da waren.

  • Lautstärke, Nähe oder bestimmte Worte können unser „Alarmzentrum“, auch wenn die Intention der Beziehungsperson keine böse ist.


Das Nervensystem reagiert reflexhaft: Fight, Flight, Freeze oder Fawn. Statt erwachsen und klar zu streiten, übernimmt eine alte Traumaresponse – wir greifen an, laufen weg, erstarren oder versuchen um jeden Preis zu besänftigen. Das Ergebnis: Kommunikation bricht ab, und beide fühlen sich unverstanden. Was bedeuten diese traumagesterten Modi im Streit genau?


Fight - der Kampfmodus

Wenn wir uns in einem Streit wiederfinden, kann unser Nervensystem in den Kampfmodus schalten. Plötzlich fühlen wir uns aufgeladen, unsere Muskeln spannen sich an, das Herz schlägt schneller – bereit, uns vehemennt zu verteidigen oder unsere Position zu behaupten. Worte werden scharf, Gesten energisch, der Gesichtsausdruck kalt. In Beziehungen kann dies bedeuten, dass wir lauter werden, stur bleiben oder aggressiv reagieren. Es ist unser angeborenes Überlebenssystem, das uns vor Feinden schützt – aber es kann die Verbindung zur Partnerperson kurzfristig blockieren und euch hindern gemeinsam eine Lösung zu finden.


Flight - der Fluchtmodus

In anderen Situationen reagiert unser Körper manchmal auf Konflikt, indem er in den Fluchtmodus geht. Wir wollen einfach weg, uns zurückziehen, den Raum verlassen oder innerlich abschalten. Herzrasen, schneller Atem, vielleicht Zittern – unser Körper signalisiert: „Gefahr! Weg hier! Raus aus der Beziehung!“ In der Beziehung zeigt sich das durch Schweigen, Rückzug oder körperliche Distanz. Auch dies ist eine Schutzreaktion, um emotionale Verletzungen zu vermeiden.


Freeze - der Erstarrungsmodus

Wenn wir uns in Streitmomenten völlig blockiert fühlen – friert unser Körper ein. Wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen, sind innerlich wie gelähmt. Herzschlag und Atmung können sich verlangsamen, ein Gefühl von Schwere oder Taubheit breitet sich aus. Man fühlt nichts und kann sich nicht mitteilen. In Partnerschaften äußert sich das als Sprachlosigkeit, emotionale Abwesenheit oder das Gefühl, „wie eingefroren“ zu sein. So schützt unser Nervensystem uns, indem es kurzfristig die Aktivität reduziert, um Überwältigung zu vermeiden.


Fawn - der Anpassungsmodus

Manche Menschen reagieren auf Konflikte, indem sie versuchen, zu gefallen oder zu beschwichtigen – das sogenannte „Fawning“. Sie geben nach, machen ungewollte Kompromisse, versuchen Harmonie zu erzwingen oder Konflikt zu glätten, selbst auf Kosten der eigenen Bedürfnisse. Körperlich kann das Anspannung und gleichzeitig Unterordnung bedeuten. Die Augenhöhe zwischen den beiden Parteien geht verloren. In Beziehungen kann Fawning kurzfristig zwar Ruhe bringen, langfristig jedoch dazu führen, dass eigene Grenzen verletzt werden und man nicht nur gegen den Partner, sondern auch gegen sich selbst eine Agression aufbaut.


Warum ein reguliertes Nervensystem der Schlüssel ist


Wenn wir im Gleichgewicht sind, können wir Konflikte aus einer anderen Haltung führen und gemeinsam am Ziel ankommen, sogar danach mehr Nähe zur Beziehungsperson empfinden:

  • Wir hören wirklich zu, statt nur auf Angriff zu warten.

  • Wir spüren unsere eigenen Grenzen – und die des anderen.

  • Wir bleiben verkörpert präsent im Hier und Jetzt, statt uns in alten unverarbeiteten Kindheitskonflikten zu verlieren.


Ein reguliertes Nervensystem schenkt uns die Fähigkeit, zwischen Stress und Ruhe zu pendeln, ohne komplett im Überlebensmodus zu landen. Genau das ist die Grundlage für konstruktives Streiten.


Wie bleibt man im Streit konstruktiv?


1. Pause für den Körper

Wenn ihr merkt, dass Stimmen lauter werden oder euer Herzschlag und Atem rasen: sagt Stopp!Macht eine kurze Pause, atmet jede*r für sich tief durch, spürt die Füße am Boden, wechselt den Raum. Oft braucht das Nervensystem nur paar Minuten, um wieder ins Gleichgewicht zu finden und den Traumapfad zu verlassen.


2. Trigger benennen

Sag deinem Gegenüber, was genau dich getroffen hat: „Als du die Stimme erhoben hast, habe ich mich klein und bedroht gefühlt." Das benennt nicht die Schuld oder die/den Schuldigen, sondern die Wirkung – und öffnet Raum für empathisches Verständnis.


3. Vom Vorwurf zur Ich-Botschaft

Statt „Du hörst mir nie zu!“ lieber: „Ich fühle mich nicht gesehen, wenn ich dir etwas erzähle und du aufs Handy schaust.“ Das macht verletzlich, aber nicht angreifend. Es spiegelt dem Gegenüber vorwurfslos sein Verhalten.


4. Kleine somatische Übungen einbauen

  • Hand auf Herz oder Bauch legen, bewusst atmen, bevor man antwortet.

  • Kurz aufstehen und Schultern, Arme oder Beine ausschütteln. Beweglichkeit ist das beste Mittel gegen Starre.

  • Blick aus dem Fenster schweifen lassen. Feststellen, dass man gerade im Hier und Jetzt sicher ist.


5. Den Wert von Streit anerkennen

Konstruktiver Streit hat auch tatsächliche Vorteile:

  • Er klärt unausgesprochene Spannungen.

  • Er zeigt Bedürfnisse, die sonst verborgen, unbewusst oder unausgesprochen blieben.

  • Er stärkt Vertrauen, wenn beide erleben: „Wir können uns streiten – und wieder danach zueinander zu unserer Verbindung finden.“


Streit ist nicht das Ende von Verbindung – er kann sogar der Beginn von mehr Nähe sein. Der Unterschied liegt darin, ob wir aus einem getriggerten Überlebensmodus heraus agieren oder mit einem regulierten Nervensystem, spürbaren Körperkontakt präsent bleiben.

Ein Streit darf laut, emotional und intensiv sein – solange er nicht zerstört, sondern reinigt. Denn jedes Gewitter am Beziehungshimmel kann, wenn es achtsam durchlebt wird, die Luft klarer machen.

 
 
 

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